Gewahrsein und Moral


Verschiedene Menschen können in derselben Situation völlig unterschiedlicher Dinge gewahr werden. Man stelle sich eine Gruppe von Museumsbesuchern vor, die alle gleichzeitig ein bestimmtes Gemälde betrachten. Gäbe es Instrumente, mit denen man visuelle Aufzeichnungen von allen Vorgängen in Körper, Geist und Seele der Betrachter machen könnte, dann hätten wir am Ende ein gigantisches Bildmaterial zur Verfügung, bei dessen Auswertung man sich überhaupt nicht vorstellen könnte, dass den individuellen Rezeptionen eine gemeinsame Basis zugrunde lag. Wir hätten es nicht nur mit unterschiedlichen biochemischen Reaktionen in den einzelnen Körpern zu tun, sondern auch mit individuellen gedanklichen Assoziationen und emotionalen Reaktionen.

Hier sehen wir, dass die alte lateinische Definition von Wahrheit als Übereinstimmung des Verstandes bzw. der Wahrnehmung mit den Dingen an ihre Grenzen stößt. Diese Definition trifft allenfalls auf logische Festlegungen zu, nicht aber auf Prozesse. Und da Leben ein Prozess ist, trifft sie auf alles nicht zu, was lebendig ist. Unter den beiden folgenden Voraussetzungen könnte die Definition dennoch Sinn ergeben. Zum einen müsste die Wahrnehmung frei von Projektionen sein, das heißt, sie dürfte über die kategoriale Struktur der sinnlichen Wahrnehmung hinaus nichts in die Dinge hineinlegen, was nicht in ihnen enthalten ist.

Wäre diese Voraussetzung gegeben, dann müssten zum zweiten alle denkbaren und realen Interaktionen zwischen Objekten und betrachtenden Subjekten als wahr gelten. Bezogen auf das Beispiel des Gemäldes wären dann alle Reaktionen und Assoziationen der Betrachter wahr. Es gäbe also ebenso viele Wahrheiten, wie es Betrachter und Interpretationen gibt. Solange es um Kunst geht, würden die meisten dieser Einschätzung wohl zustimmen, entsprechend dem Grundsatz Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Sobald es aber um Moral geht, tendieren die meisten Denker aller Zeiten zu der Auffassung, dass es allgemeingültige Wahrheiten gibt.

Stellen wir uns die oben erwähnte Gruppe vor, wie sie statt eines Kunstwerks eine Hinrichtung beobachtet. Anders als bei der Betrachtung eines Gemäldes werden die Zuschauer unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob diese Hinrichtung eine gute oder eine böse Handlung ist. Wie sie sich entscheiden, wird vor allem abhängen von den Umständen der sanktionierten Tat und von der Haltung zu der Frage, ob die bewusste Tötung eines Menschen prinzipiell böse ist oder nicht. Je nachdem, was der Zuschauer über die Tatumstände weiß, und ob er für oder gegen die Todesstrafe ist, wird er bei der Hinrichtung eher Genugtuung, Mitleid oder eine Mischung aus beiden empfinden.

Dabei verdankt er sowohl sein Wissen über die Tatumstände als auch seine moralische Haltung zur Todesstrafe nicht seiner eigenen Erfahrung, sondern Informationen, die er über Dritte bezogen hat. Beide werden als Projektionen die Wahrnehmung der Hinrichtung verzerren, sodass der Zuschauer schließlich nicht den Prozess selbst wahrnimmt, sondern nur, was er diesbezüglich denkt und glaubt.

Moralische Grundsätze sind deshalb die größten Feinde des Gewahrseins, weil sie die Wahrnehmung darauf fokussieren, was sein soll und nicht auf das, was ist. Robert Musil weist auf den entscheidenden Punkt hin:

"Moral ist Zuordnung jedes Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand!"
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften - Roman/I. Erstes und zweites Buch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 16. Auflage 2002, S. 869

Für den moralisch festgelegten Betrachter einer Hinrichtung ist diese nichts anderes als ein Spezialfall seiner allgemeinen Gesinnung. Da aber im Leben eines Menschen kein einziges Ereignis einem zweiten gleich ist, ist eine solche Ableitung wirklichkeitsfremd. Gewahrsein kann nur dann ein Akt der Selbsterkenntnis sein, wenn es sich nicht von moralischen Prinzipien aushebeln lässt. Dies verdeutlichen auch die ersten vier Definitionen von Gewahrsein, die allesamt mit Moral unvereinbar sind.

Sind moralische Projektionen und Vor-Urteile aber erst einmal vorhanden, dann lassen sie sich ähnlich wie Angst-, Hass- oder Wunschprojektionen nicht einfach über Bord werfen. Der erste Schritt sie zu entschärfen, besteht darin, sie sich bewusst zu machen. Eine Projektion verliert bereits durch ihre bloße Bewusstmachung einen Teil ihrer Kraft. Das hängt damit zusammen, dass dadurch eine Alternative zur unreflektierten und ungebremsten Wirkung der betreffenden Projektion geschaffen wird. Zu wissen, dass man etwas Bestimmtes tut, bietet auch die Möglichkeit, es zu unterlassen.

Zwar ist die Projektion dann noch nicht ganz verschwunden, doch sie kann zumindest aus dem Vordergrund in den Hintergrund befördert werden. Je öfter solche Bewusstmachungen erfolgen, desto mehr verlieren die Projektionen an Wirkung. Gewahrsein als Prozess der Selbsterkenntnis besteht also wesentlich im Bewusstmachen und Abstrahieren von Projektionen.

Kaum eines von Nietzsches Werken hat für so viel Wirbel und Aufregung gesorgt wie sein 1886 erschienenes Buch mit dem Titel Jenseits von Gut und Böse. Es war der vielleicht heftigste Stich aller Zeiten ins Herz der Moral, besonders der christlichen. Auch rund 125 Jahre später befindet sich die überwältigende Mehrheit der Menschen immer noch diesseits von Gut und Böse. Ob man sich diesseits oder jenseits davon befindet, hängt davon ab, ob man dialektisch denkt oder nicht, das heißt, ob man an das absolut Gute oder Böse glaubt oder nicht. Diesen Unterschied möchte ich an einem extremen Beispiel erläutern.

Weltweit dürfte wohl eine überwältigende Mehrheit der Menschen davon überzeugt sein, dass Adolf Hitler ein böser Mensch war, der mehr Unheil angerichtet hat als jeder andere. Angesichts der Millionen Menschen, die seiner wahnsinnigen Politik zum Opfer gefallen sind, kann diese Einschätzung kaum jemanden verwundern. Es ist naheliegend, sich über dessen Gräueltaten moralisch zu empören, doch nicht die Empörung, sondern allein das Verstehen kann verhindern, dass sich Vergleichbares in der Geschichte wiederholt.

Es ist historisch überliefert, dass der junge Adolf von seinem Vater schwer gezüchtigt und gedemütigt wurde. Dessen Tyrannei raubte ihm den Lebensraum, den er als Kind und Jugendlicher benötigt hätte, um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Schon früh hatte Hitler sich der damals weit verbreiteten Meinung angeschlossen, dass das deutsche Volk durch den Versailler Vertrag geknebelt und gedemütigt worden sei. Nach seinen eigenen Angaben wurde ihm in den Jahren 1907 und 1908 zweimal ein Studium an der Wiener Kunstakademie von einem jüdischen Professor verwehrt. Zu den jahrhundertealten antisemitischen Ressentiments gesellte sich nach der Russischen Revolution von 1917 vor allem in Europa ein antibolschewistischer Geist.

Gewahrsein gegen GewaltMoral erzeugt Gesinnungen und schaltet das Spürbewusstsein aus.
Ein hohes Gewahrsein ist der beste Schutz gegen Gleichschaltung jeder Art.
Foto-Quelle: http://www.h-ref.de/

 

Vor diesem Hintergrund war es gewiss kein Zufall, dass die Gewinnung von Lebensraum im Osten  - einengende Demütigung durch den Vater -, die Abrechnung mit den Unterzeichnern der "Schmach von Versailles" - einengende Demütigung des deutschen Volkes durch die Siegermächte - und die Endlösung der Judenfrage - einengende Demütigung durch einen jüdischen Kunstprofessor -, später zentrale Punkte der Hitlerschen Kriegspolitik wurden. Hätten die vermeintlich Guten wie zum Beispiel das deutsche Volk, das ihm auf breiter Front zujubelte, die Banker, die ihm seine Aufrüstung finanzierten, oder die aus eigenen machtpolitischen Interessen zögerlichen Alliierten ihm nicht den Rücken gestärkt, dann hätte es dem als Kind traumatisierten Adolf niemals gelingen können, als wahnsinniger Führer Unheil über die ganze Welt zu bringen.

Natürlich waren die Zusammenhänge viel komplexer, als meine bewusst pointierte Darstellung vermuten lassen könnte, doch kommt es mir hier nur darauf an, zu zeigen, dass es in der Realität kein absolut Gutes oder Böses gibt. Heilsames und Unheilvolles sind - anders als in der Moral - in der Wirklichkeit stets ineinander verwoben. Deshalb verzichtet das Gewahrsein darauf, einzelne Phänomene eines unendlichen Prozesses moralisch zu bewerten, sondern beschränkt sich darauf zu beobachten, welche Prozesse die Phänomene im eigenen Gesamtsystem auslösen und welche Folgen sie für das gesellschaftliche Gesamtsystem haben. Wer auch nur einer schrecklichen Szene aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern gewahr geworden ist, ist gegenüber menschenverachtender Gewalt stärker sensibilisiert als jemand, der sich in einem Geschichtsleistungskurs monatelang mit der nationalsozialistischen Ideologie beschäftigt. Nach meinen eigenen Erfahrungen als Geschichtslehrer habe ich den Eindruck, dass in den Schulen besonders bei der Behandlung dieses sensiblen Themas die Mitte zwischen positivistischer Reflexion und idealisierender Moral fehlt.

Diese Mitte könnte aus einem Gewahrsein resultieren, das die Auswirkungen von menschenverachtender Gewalt sowohl auf das individuelle wie auf das kollektive Gesamtsystem im Auge hat. Immer wieder höre ich von Oberstufenschülern, dass sie das Thema Nationalsozialismus zum Kotzen finden, weil sie stets nur mit Zutaten der reflektierenden und moralisierenden Analyse zubereitete Fertiggerichte wiederkäuen sollen. Sie sind verwirrt, da ihre eigene Lebenswirklichkeit nicht wirklich einbezogen wird und niemand sie fragt, was das Thema mit ihrem individuellen Gesamtsystem macht. So nehmen sie meist nur zum Schein an den künstlichen Scheingefechten im Unterricht teil.

"Die Moral aber ist nur der äußere Schein von Treue und Glauben und der Verwirrung Beginn."
Laotse, Tao Te King, Zensho W. Kopp (Übers.), Schirner, Darmstadt 2005, Kap. 38

Moral stiftet vor allem deshalb Verwirrung, weil sie einen Konflikt erzeugt zwischen unserer inneren Stimme, die uns in jedem Augenblick sagt, was wir tun oder unterlassen sollen, und äußeren Maßstäben, die uns vorschreiben, wie wir uns grundsätzlich verhalten sollten. Während es im Alten Testament noch Zehn Gebote gibt, reduziert Jesus diese in der Bergpredigt deshalb auch auf ein einziges Gebot, das uns auf unsere innere Stimme verweist:

"Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt - das ist alles, was das Gesetz und die Propheten fordern."
Bibelzitate, Die Bibel in heutigem Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft, Liechtenstein 1994, NT S. 9 f. (Matthäus 7.12)

Wer mehr fordert, möchte mittels der Moral über andere Menschen Macht ausüben, indem er ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Verhalten abnimmt und sie auf sich überträgt. Verantwortungsvoll handelt nur, wer seiner inneren Stimme folgt. Moral ist Flucht vor Verantwortung.

Sucht und Selbststeuerung